von Olga Drossou
Wie es aussieht, wird es nicht zu einem griechischen Bankrott und Grexit aus der EU kommen. Zumindest vorerst nicht. Die griechische Regierung und die Kreditgeber werden sich auf neue Verhandlungen verständigen – mit besseren Voraussetzungen.
Der Countdown war da. Wir mussten nur noch bis Ende Juni zählen. Ohne förmliche Verlängerung des laufenden Rettungsprogramms wäre es spätestens am 30. Juni zum „default“ gekommen. Griechenland kann heute schon seine Kredite an den Internationalen Währungsfonds (IWF) nicht zurückzahlen. Am 30. Juni wäre der Kreditfall eingetreten. Der IWF müsste dann alle Kredite an Griechenland fällig stellen. Ohne den Rettungsschirm entfiele auch die Legalfiktion, mit der die Europäische Zentralbank (EZB) bisher die fortlaufende Erhöhung des Kreditrahmens für die griechischen Banken auf nunmehr über 84 Milliarden Euro Liquiditätskredite rechtfertigt. Solange es diesen Rettungsschirm gibt, sind für sie die griechischen Banken per definitionem „sicher“.
Viele bezweifeln zwar, dass das stimmt. Schließlich heben ihre Kunden seit Jahresbeginn Milliarden an Einlagen ab, etwa 40 Prozent ihrer Kredite sind notleidend und ihr Eigenkapital besteht zu großen Teilen aus Steuergutschriften des griechischen Staates und griechischen Staatsanleihen. Im Falle des Staatsbankrotts werden diese Guthaben mehr oder weniger wertlos. Die Banken, die den griechischen Staat jetzt durch das Aufkaufen kurzfristiger Anleihen liquide halten, wären dann auch bankrott. Ohne die Verlängerung des Rettungsschirms kann die EZB diese Fiktion stabiler griechischer Banken nicht aufrechterhalten und neue, von der griechischen Notenbank ausgereichte Notkredite genehmigen. Damit wäre Griechenland vom Euro abgeschnitten. Die griechische Regierung müsste ihre Notenbank mit der Ausgabe eines anderen Zahlungsmittels beauftragen.
Grexit würde Ausstieg aus der EU bedeuten
Faktisch wäre das der „Grexit“. Rechtlich, sofern Recht noch eine Rolle spielt, wäre die Frage eines Austritts Griechenlands aus dem Euro noch lange nicht geklärt. Denn die Verträge sagen unmissverständlich, dass die Mitgliedschaft im Euro unwiderruflich ist. Eine Kündigung ist nicht vorgesehen, solange ein Land Mitglied der EU ist. Also stünde auch gleich die Frage der Mitgliedschaft in der EU auf der Tagesordnung. Das sagt auch der Bericht des Präsidenten der regierungsunabhängigen Griechischen Nationalbank über die griechische Geldpolitik 2014-15, den sie vergangene Woche der Regierung zugeleitet hat. Eindringlich warnt sie vor dem Scheitern der Verhandlungen mit den internationalen Kreditgebern Griechenlands, denn „that would lead initially to a Greek default and ultimately to the country’s exit from the euro area and – most likely – from the European Union“. Der Regierung missfiel übrigens dieser Bericht des Nationalbankpräsidenten und Wirtschaftsministers der Vorgängerregierung, Jannis Stournaras. Sie wertete ihn als Verrat an der griechischen (Regierungs-)Position, Stimmen forderten Stournaras Rücktritt.
Ist es unvorstellbar, dass dann letztlich der Präsident der EZB die Entscheidung über den Bankrott Griechenlands, seinen Verbleib in der gemeinsamen Währung und in der Europäischen Union entscheidet? Bislang haben die Länder der Eurozone zwar alles dafür getan, dass die EZB die Entscheidungen trifft, die sie nicht selbst treffen wollten oder konnten: so zum Beispiel die Verhinderung des Staatsbankrotts, die Staatsfinanzierung durch die Notenbank und die Vergemeinschaftung eines Teils der Schulden. Dass all das jemals rechtens war und ist, bezweifeln viele. Aber es hat Zeit gekauft. Trotzdem wird die Politik sich nicht vor ihrer Verantwortung drücken können. Am Ende muss sie entscheiden – und sie wird entscheiden. Sie wird sich für die Verlängerung des Rettungsprogramms entscheiden und damit der EZB die Legalfiktion sicherer griechischer Banken liefern, die diese für die Verhinderung des Staatsbankrotts und des wirtschaftlichen Kollaps in Griechenland benötigt.
Verbündeter auf Zeit
Dennoch wird nicht einfach das alte Rettungsprogramm fortgeschrieben. Die Euroländer haben auf Initiative Deutschlands alle bisherigen Rettungsprogramme stets auf zwei Säulen errichtet: Die erste ist die Konditionalität, also die Formel „Kredite für Reformzusagen“. Die zweite ist die Beteiligung des IWF, der als nicht-europäische Institution so etwas wie den nicht-korrumpierbaren Aufpasser geben sollte. Diese Rolle hat er anfangs zwar nicht gut gespielt, als er seine Regeln sehr zugunsten der in Not geratenen Eurozone auslegte. Das brachte ihm von den außereuropäischen Anteilseignern auch viel Kritik ein. Nächstes Jahr jedoch will Christine Lagarde wieder zur geschäftsführenden Direktorin des IWF gewählt werden. Sie ist deshalb gezwungen, die Regeln strikt auszulegen und anzuwenden. Und die verlangen vor allem, dass jeder weitere Kredit nur dann gewährt wird, wenn die Schuldentragfähigkeit Griechenlands gewährleistet ist.
Der IWF will sicher sein, dass Griechenland die ihm gewährten Kredite auch wieder zurückzahlen kann und wird. Deshalb gab sich der IWF in den letzten Wochen und Monaten unnachgiebig und drängte auf eine Schuldenerleichterung, die in erster Linie die europäischen Kreditgeber belasten würde. Daher betrachtete die griechische Regierung den IWF zeitweise als Verbündeten, während Kommissionspräsident Juncker ihn loswerden wollte. Doch Kanzlerin Merkel braucht den IWF, um ihre CDU weiter hinter sich halten zu können. Der IWF hat seinerseits in den letzten Wochen klargemacht, dass die Schuldentragfähigkeit nur auf zwei Wegen erreicht werden könne: Entweder müsse Griechenland ein höheres jährliches Plus für die Rückzahlung der Kredite erwirtschaften und gleichzeitig stärker sparen – oder die Euroländer sind zu einem Schuldenschnitt oder anderen gesichtswahrenden Maßnahmen bereit, um Griechenland zu entlasten.
Bislang haben die Euroländer den Schuldenschnitt immer ausgeschlossen, weil er Länder, die selbst ärmer sind als Griechenland, sehr teuer zu stehen käme. Der andere Weg, mit dem sich die Schuldenlast verringern ließe, bestünde in der Verlängerung der Laufzeiten der Kredite, eventuell verbunden mit einer erneuten Verminderung der ohnehin schon geringen Zinsen. Diesen Weg wird die Eurogruppe nun vermutlich einschlagen. Sie hat ihn ohnehin schon seit langem, nämlich seit ihrem Treffen am 27. November 2012, in Aussicht gestellt. Auf diese Zusage verweist auch der Bericht des Präsidenten der unabhängigen Griechischen Nationalbank.
Was ist bislang falsch gelaufen?
Wenn die internationalen Kreditgeber sich heute auf eine Verlängerung des Rettungsprogramms um weitere drei Monate verständigen, dann sollten sie sich fragen, was in den letzten Monaten seit der Bildung der neuen links-nationalistischen griechischen Regierung alles falsch gelaufen ist. Von ihrer Seite war es offenbar falsch, sich auf das Spiel der griechischen Regierung einzulassen, die nie ernsthaft daran gedacht hat, das Abkommen vom 20. Februar einzuhalten. In diesem Abkommen hatte Griechenland zugesagt, dass es seinen Gläubigern weiterhin die Rückzahlung aller Schulden zusichert und gleichzeitig ein neues Reformprogramm vereinbart, das einzelne Maßnahmen durch andere, hoffentlich bessere ersetzt, ohne die Schuldentragfähigkeit zu gefährden. Von Anfang an sprachen Regierungschef Tsipras und sein kommunikationsstarker Finanzminister Varoufakis von der „strategischen Mehrdeutigkeit“ dieses Abkommens, das den Rettungsschirm bis Ende Juni über Griechenland ausdehnte. Der griechischen Regierung ging es um Zeitgewinn und um Zuspitzung. Ein gefährliches Kalkül, denn in den vergangenen fünf Monaten drehten sich die Verhandlungen im Kreis und die Gläubiger steigerten ihre Forderungen mit den schlechteren Wirtschaftsdaten aus Griechenland.
Die griechische Regierung hat sich erst bewegt, als die Kreditgeber Ultimatum stellten und auch die griechische Öffentlichkeit es mit der Angst zu tun bekam. Das Pokerspiel der griechischen Regierung, das der Langmut der Kreditgeber möglich gemacht hat, hatte einen sehr hohen Preis. Beinahe täglich haben in den letzten Wochen und Monaten in Griechenland 60 Unternehmen ihren Bankrott erklärt und bis zu 600 Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassen müssen. Mit Beginn der Hängepartie brach das Vertrauen in die Zukunft der griechischen Wirtschaft zusammen, das sich noch Ende 2014 auf die Prognose ansehnlicher Wachstumsraten stützen konnte. Aber es blieben nicht nur Investitionen und Steuerzahlungen aus. Auch die griechische Regierung hat Teile der Wirtschaft schwer geschädigt, da sie Dienstleistungen nicht mehr bezahlte, die private Unternehmen für den öffentlichen Sektor erbracht haben. Darauf weist der Bericht der Griechischen Nationalbank ausdrücklich hin. Viele dieser Dienstleister gingen Pleite, weil die Priorität der griechischen Pokerstrategie beim Spiel auf Zeit lag. Bis Ende Juni sollten der Bankrott verhindert und Pensionen und Gehälter gezahlt werden. Denn die Rentner und die Angestellten des öffentlichen Sektors sind Syrizas Wähler. Das Schicksal der Menschen im Privatsektor war demgegenüber zweitrangig. Auch die großzügige Gesetzgebung zur Zahlung von Steuerschulden, die sich für Griechenland auf ca. 80 Milliarden. Euro belaufen, hat dem Ziel gedient, ganz schnell an etwas Geld zu kommen, mit dem sich Zeit kaufen ließ. Wer unverzüglich die erste Rate der Steuerzahlung beglich, wurde um die gesamten Straf- und Zinszahlungen entlastet. Das hat griechische Oligarchen, die im Ausland leben und ihr Geld in griechischen Fußballclubs waschen, sehr gefreut. Der Hebung der Steuermoral hat es sicher nicht gedient. Die Dummen waren wiedermal diejenigen, die ihre Steuern oder sogar ihre Strafzinsen bezahlt haben.
Neue Verhandlungen müssen Entlastung bringen
Die neue Verhandlungsrunde wird diese Fehler hoffentlich nicht wiederholen. Sie wird sich auf drei Säulen konzentrieren: 1) die Verringerung der Schuldenlast, 2) Impulse für wirtschaftliches Wachstum und 3) die Konsolidierung des Haushalts. Jedes Entgegenkommen bei den Schulden wird von Syriza und der griechischen Öffentlichkeit als ein großer Erfolg betrachtet werden. Es hilft nichts, wenn Ökonomen vorrechnen, dass der Schuldendienst Griechenlands schon unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht größer ist als etwa der Italiens. Syriza wird mit der Aussicht auf bessere Konditionen für die Abbezahlung der Schulden oder sogar mit der Aussicht auf eine Verringerung der Schuldenlast, sein wichtigstes politisches Ziel erreichen. Der dadurch gewonnene Spielraum für neue soziale Ausgabenprogramme wird jedoch nicht so groß werden, wie es für die Verwirklichung seines Wahlprogramms – 200.000 neue Arbeitsplätze vor allem im öffentlichen Sektor, höhere Pensionen, soziale Notprogramme für die ärmsten Haushalte – erforderlich wäre. Viele Wahlversprechen wird die griechische Regierung zurückstellen oder ganz aufgeben müssen. Dennoch wird sie Spielräume haben, um eine sozial gerechtere und ausgewogenere Verteilung der Lasten gegenüber den Vorgängerregierungen durchzusetzen. Und sie wird auf die Fortsetzung der Haushaltskonsolidierung verpflichtet werden. Das bedeutet zum Beispiel, dass das extrem teure griechische Rentensystem billiger werden muss: sie wird die eklatant ungerechtfertigten Frühverrentungen abschaffen, vielleicht werden auch die eigentlich privaten Zusatzrenten nicht mehr im bisherigen Umfang staatlich bezuschusst. Schon die Vorgängerregierung hat unter dem Druck der Troika ein Gesetz zum Haushaltsausgleich verabschiedet, welches die bedarfsunabhängige öffentliche Bezuschussung der Zusatzrenten privater Versorgungswerke beenden sollte. Die Regierung Samaras hat es nie in die Tat umgesetzt, und Syriza wollte das Gesetz wieder ganz abschaffen. Hier wird Syriza nachgeben müssen, und ob dies zur Konsolidierung dieses regierungsunerfahrenen Bündnisses aus Sozialdemokraten, Kommunisten und Sozialisten führen wird oder zu dessen Spaltung wird abzuwarten sein.
Aus dem innerparteilichen Streit, der jetzt einsetzen wird, könnte der europafreundliche Flügel am Ende gestärkt und der europaskeptische linke Flügel um Energieminister Panagiotis Lafazanis und den Grexit-Abgeordeneten Costas Lapavitsas geschwächt werden. Ob Syriza darüber hinaus die Kraft aufbringt, den dysfunktionalen Staat zu erneuern, den Klientelismus einzudämmen und die Idee eines gemeinwohlorientierten Staats glaubwürdig zu vertreten, der für die geleisteten Steuerzahlungen qualitativ hochwertige, allgemein zugängliche öffentliche Güter zur Verfügung stellt, bleibt abzuwarten. Was Syriza bisher durch seine Politik der Besetzung von Stellen und der Verteidigung klientelistischer Interessen gezeigt hat, spricht nicht gerade dafür. Aber noch ist diese Regierung ganz jung und die letzten Monate bildeten eine Art Notstand.
Es fehlt an sinnvollem ökologisch-nachhaltigem Investment
Wo Syriza bisher wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen hatte, sprach aus ihnen stets der Geist des Etatismus. So hintertreibt Syriza beispielsweise die von den griechischen Grünen, von denen Teile der Regierung angehören, geforderte Gründung sozialer Unternehmen im Bereich des kommunalen Müllmanagements Die Grünen wollen Unternehmen „zwischen Markt und Staat“, sie sehen in der neuen auflebenden Genossenschaftsbewegung großes Potential für neue grüne Arbeitsplätze und eine neue Unternehmenskultur. Syriza hingegen kann sich nur staatlich respektive kommunal kontrollierte Unternehmen vorstellen, alles andere hält er für Privatisierung. Das ist noch ganz die alte Denke, die auch dem Klientelismus zugrunde liegt. Für die wirtschaftliche Wiederbelebung wird die Europäische Union Griechenland reichlich Mittel aus Junckers Investitionsprogramm zur Verfügung stellen. Die Rede ist von bis zu 35 Mrd. Euro – wieder vor allem für öffentliche Infrastruktur. Vielleicht werden sich noch Flächen finden lassen, die versiegelt werden können. Griechenland ist voll von EU-finanzierten Infrastrukturruinen. Die griechischen Oligarchen werden sich jedenfalls freuen, sie sind in der Regel Bauunternehmer und sichern ihren Einfluss durch ihre Zeitungen und Fernsehsender. Wahrscheinlich führt der ganze Juncker Plan insoweit in die Irre, als er annimmt, es gäbe in Griechenland und im übrigen Europa einen Mangel an Kapital. Heute haben wir aber, wie auch 2008 kurz vor Ausbruch der Krise, einen Kapitalüberhang. Es gibt vielmehr einen Mangel an Investment, vor allem an sinnvollem, ökologisch-nachhaltigem Investment. Aber vielleicht sieht die Kommission eine Möglichkeit, Investitionen im Bereich der griechischen Außenwirtschaft, vor allem im Bereich handelbarer Dienstleistungen anzuregen: im nachhaltigen Tourismus, im Bereich von IT-Dienstleistungen und bei der Produktion und dem Export erneuerbarer Energie.
Griechenland braucht ein interventionsbereites Europa
Im Wahlkampf und in den letzten Monaten hat Syriza eine problematische Rhetorik der Wahrung der nationalen Souveränität gebraucht. Das führte zur Entgegensetzung von Wir in Griechenland und die Anderen in Europa, die sich in die inneren Angelegenheiten einmischen oder das arme Land sogar ausplündern, waterboarden, erniedrigen etc. Das hat in Griechenland zum Teil verfangen. Zugleich wollen die Griechen mit großer Mehrheit im Euro bleiben, und dies nicht nur, weil es praktischer ist und sie Angst vor dem Bankrott und dem Unbekannten haben. Ihr Votum für den Euro bedeutet auch Zustimmung zur Einmischung aus Brüssel, zur Kontrolle der griechischen Regierung durch europäische Institutionen und Verträge. Wie weit diese Eimischung gehen soll und wie sie auf neue vertragliche Grundlagen gestellt werden kann, ist das Thema des EU Gipfels am Ende dieser Woche, der den Report der fünf Präsidenten (Kommission, Europäischer Rat, Europäisches Parlament, EZB, Eurogruppe) diskutieren wird. Griechenland wird ein internventionsbereites Europa brauchen.